Am 26.5.2019 findet die Europawahl statt. Immer wieder bekommt man medial, sei es in den Zeitungen oder im Fernsehen, Meldungen über die Stärkung von rechtspopulistischen, europa-feindlichen Kräften geliefert. Kräfte, die sich gegen ein gemeinsames Europa aussprechen und die Europäische Union am liebsten wieder in einzelne Nationalstaaten zerfallen sehen würden. Aber warum ist die EU so wichtig? Und was kann die EU überhaupt für die Region Marburg tun? Der EXPRESS hat sich zur Klärung dieser Fragen mit Elka Hedwig und Peter Reckling als Vertreter von Pulse of Europe Marburg (siehe Kasten) zum Interview getroffen.

Express: Wie kann die Region Marburg von Europa profitieren?

Elka Hedwig: Es gibt viele Förderprojekte. Es gibt beispielsweise einige Projekte,die Praktika speziell für Auszubildende innerhalb der EU vermitteln. Also explizit nicht für Studenten, dafür gibt es ja beispielsweise ERASMUS. Aber von den Teilnehmern des Förderprojekts sind ca. 40% nach Großbritannien gegangen, da wird sich jetzt zeigen, wie es weitergeht. Europa macht sich vor allem durch viele kleinere Projekte bemerkbar, die man so nur vielleicht nicht kennt.

Peter Reckling: Es gibt den Europäischen Sozialfonds, und über diesen Sozialfonds werden eine ganze Reihe an Maßnahmen hier in der Region gefördert. Auch zur Anpassung der sozialen Situation in verschiedenen europäischen Ländern. Selbstverständlich kommen auch europäische Jugendliche hierher, um Praktika zumachen und die deutschen Lebensverhältnisse und Ausbildungsverhältnisse kennenzulernen. Die Praktika werden in der Regel durch Vereine vermittelt. Arbeit und Bildung oder auch Integral wären da beispielsweise als Träger zu nennen. Oder man wendet sich an die Kreisverwaltung, die wissen in der Regel Bescheid, an welchen Träger man sich wenden kann. Zusätzlich fließen ca. 19 Millionen Euro an Industrie-, Wirtschafts- und Fördermaßnahmen von der EU in den Kreis und werden verteilt. Und vier Millionen Euro fließen in die Agrarwirtschaft in der Region, das muss man auch immer bedenken. Unsere Landwirte werden da schon tatkräftig unterstützt von der EU.

Express: Wieso ist es also konkret so wichtig, für die EU zu stimmen?

Peter Reckling: Für Europa zu stimmen heißt, die Kräfte, die Europa weiterentwickeln und erhalten wollen, zu stärken und zu unterstützen, damit diese eine stabile Stellung im Parlament haben. Dadurch sinkt das Risiko, dass wir wieder in einzelne Nationalstaaten zerfallen, die gegenseitig konkurrieren und sich bekriegen. Das war die Gefahr, die wir jahrhundertelang hatten in Europa. Durch die Europäische Union gibt es diese Gefahr schlichtweg nicht mehr, und deshalb leben wir momentan in der längsten Friedensperiode, die Europa in seiner Geschichte gesehen hat. Die meisten Europäer kennen das gar nicht mehr anders, gerade für die jüngeren Generationen wird der Frieden einfach als Selbstverständlichkeit hingenommen, aber leider ist das gar nicht so selbstver-ständlich. Und die Mitgliedsstaaten profitieren von diesem Frieden, wir haben beispielsweise die Reisefreiheit innerhalb der EU, man kann sich völlig frei zwischen den einzelnen Ländern bewegen, ohne Einreisevisa beantragen zu müssen. Aber vor allem wirtschaftlich haben alle Länder der EU ein Plus erwirt-schaftet, was die Entwicklung des Lebensstandards anbelangt, und wir in Mitteleuropa besonders.

Elka Hedwig: Es ist vielleicht nicht alles super in Europa, und deshalb haben wir uns bei Pulse of Europe auch nicht auf das Banner geschrieben, alles einfach nur schön zu reden. Sicherlich gibt es noch Sachverhalte, die einer Verbesserung bedürfen, aber die Idee eines gemeinsamen Europas an sich ist von enormer Wichtigkeit. Außerdem soll ein geeintes Europa nicht den Verlust von Individualität einzelner Staaten bedeuten. Die Vielfalt innerhalb Europas ist großartig und muss erhalten bleiben. Vielfalt und Gemeinsamkeit sind also kein Widerspruch, sondern eine Mischung aus beidem erstrebenswert und charakteristisch für die EU.

“Die Bürger sind durch die Wahlen aktiv in den Formungsprozess Europas eingebunden”

Express: Trotzdem ist die Gefahr, dass die Europäische Union durch Rechtspopulisten bedroht wird, immer noch gegeben…

Elka Hedwig: Und gerade deswegen sind die Wahlen jetzt so wichtig. Das Europaparlament ist das einzige Parlament, in dem der Wähler direkt beteiligt ist. Es ist ja auch ein Stück Identifikation, wenn ich zur Wahl gehe und mir bewusst mache, dass ich durch meine Wahl Einfluss nehmen kann. Wie ich votiere hängt allein von mir ab, es ist meine eigene Stimme. Wir hoffen, dass durch die Wahl auch in Staaten wie beispielsweise Polen, wo die rechtspopulistischen Kräfte starken Zuwachs bekommen haben und versuchen, das Land nach eigenem Belieben zu gestalten, auch die schweigenden Mehrheiten ihre Chance ergreifen und ihre Stimmen abgeben. Es gab ja auch Proteste gegen die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen. Nicht alle stehen hinter diesen Maßnahmen, und durch die Europawahl hat jeder einzelne Bürger die Möglichkeit, seinen Unmut zu artikulieren. Die Bürger sind durch die Wahlen aktiv in den Formungsprozess Europas eingebunden.

Peter Reckling: Wir sollten auch nicht vergessen, dass sich Europa gewisse Standards auferlegt hat und die Umsetzung und Durchführung dieser Standards als oberste Priorität gelten, sie bilden das Fundament Europas. Es gibt die Menschenrechte und die Demokratieversprechen. Und wenn diese Standards von einem Land nicht eingehalten werden, ist die EU in der Pflicht, solche Missstände anzusprechen und zu verurteilen. In einem lockeren Bund würde so etwas vielleicht als Einmischung in innere Angelegenheiten gelten. So steht aber die Aussage “Wir sind Europa, und bei uns gilt das” ganz klar im Vordergrund. Es muss deutlich sein, dass solche Angriffe auf das Fundament nicht hinnehmbar sind.

Express: Was passiert denn, wenn europafeindliche Kräfte ihren Weg ins Parlament finden?

Elka Hedwig: Das ist ja jetzt schon der Fall, wie man beispielsweise am Brexit sehen kann. Aber wie in jedem anderen Parlament, müssen diese europafeind-lichen Kräfte von den anderen Kräften überstimmt werden. Es ist noch keine ganz große Katastrophe, es ist aber definitiv auch nicht zu beschönigen. So ist nun mal eine Demokratie. Wenn die dann im Parlament sitzen, muss man eben darauf hoffen, dass die anderen demokratischen Kräfte sich formieren und dagegen arbeiten.

Peter Reckling: Wir haben jetzt eine Art große Koalition zwischen der EVP und den Sozialdemokraten. Es wird wahrscheinlich dazu kommen, dass die zwei gar nicht ausreichen für eine Mehrheit. Aber das ist auch eine Chance für die anderen Kräfte, beispielsweise die Grünen oder die Liberalen. Vielleicht gibt es dadurch nochmal andere Impulse in Europa. Natürlich sind Koalitionen immer schwierig, aber die Blickwinkel auf verschiedene Sachverhalte verändern sich durch verschiedene Konstellationen stetig. Was der eine gut findet, findet der andere vielleicht nicht gut genug. In diesem Sinne ist es schon ein Problem, wenn nationalistische Kräfte stärker werden. Andererseits kann man aber zuversichtlich sein, dass die Vertreter der destruktiven und rückwärtsgewandten Tendenzen zumindest nicht die Mehrheit bekommen werden. Trotzdem reicht es nicht aus, einfach nur zu hoffen, dass alles gut geht. Eine aktive Teilnahme an der Wahl ist enorm wichtig, um den europäischen Gedanken gemeinsam zu stärken und weiterzuentwickeln. Wir brauchen ein starkes und gemeinsames Europa.

“Pulse of Europe”
… entstand gegen Ende 2016 in Frankfurt, motiviert durch den Brexit und den Zuwachs nationalistischer und rechtspopulistischer Parteien und Strömungen, aus Sorge um die Gemeinschaft Europa. Die Bürgerbewegung versteht sich als überparteilich, unabhängig und pro-europäisch und ist ehrenamtlich organisiert. Besonders wichtig ist der Bewegung die Stärkung eines sozialen Europas, die EU als Gemeinschaft, in der die einzelnen Staaten miteinander agieren und voneinander profitieren. Im Rahmen der bevorstehenden Europawahl finden vermehrt Veranstaltungen statt, die nächste am Sonntag, 19.5. ab 14.00 Uhr auf dem Marktplatz.https://pulseofeurope.eu/poe-staedte/deutschland/marburg/

G.E.

Interview: Georg Ehrenfried

Bild mit freundlicher Genehmigung von Georg Ehrenfried