Ein offener Brief soll den Autokraten zum Umdenken bewegen, andernfalls drohe sein Ende. Mit-Initiator ist Ulrich Wagner von der Philipps-Universität
„Herr Präsident! Wir wenden uns an Sie, um unser akademisches und praktisches Wissen über die Konsequenzen mit Ihnen zu teilen, die der Beginn eines Krieges für den Anstifter hat. Zudem möchten wir Ihnen einen möglichen Ausweg aus einer solch gefährlichen Situation zeigen.“ Die Adresse, an die diese Zeilen gerichtet sind, ist keine geringere als die des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Iljinka-Straße 23 steht im Briefkopf – ein Gebäude in der Nähe des Roten Platzes, in dem bis 2008 das russische Verfassungsgericht seinen Sitz hatte.
Initiiert haben den Brief die Sozialpsychologen Ulrich Wagner und Rolf van Dick. Wagner ist Professor an der Philipps-Universität Marburg. Van Dick ist ebenfalls Professor; er forscht und lehrt an der Uni Frankfurt, promovierte aber in Marburg.
Insgesamt 38 Psychologen aus 19 verschiedenen Staaten haben ihre Unterschrift unter den Text gesetzt. Es ist ein Appell an die Vernunft, den sie dem Kremlchef senden. Sie empfehlen Putin dringend, noch einmal „nachzudenken“ – darüber, was Krieg und Frieden für Russlands Volk und Führer bedeuten. „Dieser Brief informiert sie über einige der Folgen,“ heißt es an einer Stelle nüchtern.
Ein Krieg sei nicht nur dramatisch für unschuldige Bürger und beteiligte Soldaten – sondern habe auch negative Auswirkungen für die Anstifter: Als politische Führer würden sie in der Regel abgesetzt, egal ob mittel- oder langfristig – und zwar von der eigenen Bevölkerung.
Kern dieser Prophezeiung ist, dass Kriege die (nationale) Identität – in diesem Fall die der Russen – gefährde. Um das zu untermalen, führen die Akademiker mehrere sozialpsychologische Thesen an.
Menschen bauen ihr Selbstbild auf, indem sie gleichzeitig zwischen den beiden Polen „Einbindung“ und „Abgrenzung“ pendeln, erläutern die Briefschreiber. Damit berufen sich die Wissenschaftler auf die Theorie der „Optimal distinctiveness“ der amerikanischen Psychologin Marylinn Brewer. Die besagt, dass Individuen sowohl ein Bedürfnis nach Anpassung („assimilation“) als auch nach Unterscheidung („differentiation“) haben. Die Identifikation mit einer Gemeinschaft sei dann am stärksten, wenn sich beide Pole dort gegenseitig die Waage hielten.
Während Kriegen seien Nationen isoliert, schreiben die Psychologen: Das „führt zu unbefriedigten Identitätsentwicklungen, die nach Veränderungen streben.“
Ein Krieg sei zudem eine „Situation maximaler Unsicherheit über das, was richtig und falsch ist.“ Die Bürger sehnten sich immer stärker nach Erklärungen. Schließlich würden sie herausfinden, wer verantwortlich ist für Kriegsleid und Tote. Auch die Propaganda sei dabei stets in Gefahr, enttarnt zu werden.
An diesem Punkt sei die politische Führung stets bedroht, isoliert oder physisch angegriffen zu werden.
Der Aufruf der Wissenschaftler: Putin solle den Frieden als Alternative erkennen, für sich und die russische Bevölkerung. Vor allem müsse er aber offen für Verhandlungen bleiben.
LB/pe