Die Letzte Generation im Portrait: In Marburg kleben sich vor allem Eltern auf die Straße

Dem Klischee einer „Klimakleberin“ entspricht sie nicht: Irene von Drigalski (66) war knapp zehn Jahre lang Sprecherin der Impfstoffsparte der Marburger Behringwerke. Sie machte Öffentlichkeitarbeit für die Expo, eine Bundesgartenschau, den Paritätischen Wohlfahrtsverband und zuletzt für die Stiftung „Familienbande“. Nun steht sie mit auf der Straße, wenn die „Letzte Generation vor den Kipppunkten“ Kreuzungen in Marburg, Gießen oder Berlin blockiert.

Genau genommen ist die freundlich lächelnde Dame keine „Biene“, wie die „Letzte Generation“ diejenigen nennt, die sich tatsächlich mit Sekundenkleber auf dem Asphalt festkleben. Das mutet sie sich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zu. Meist ist sie eine sogenannte „Hummel“, die das Vorgehen von Polizei und Autofahrern dokumentiert und fotografiert. Und sie trainiert die „Pressebienen“. Manchmal gehört sie auch zu denen, die als „Rettungsgasse“ auf der Straße sitzen – also aufstehen können, um einen Rettungswagen durchzulassen. Trotzdem steht auch sie am 19. März wegen Nötigung vor dem Gießener Amtsgericht.

Rund 40 Männer und Frauen gehören zum Kern des „Aufstands der Letzten Generation vor den Kipppunkten“, der sich vor rund einem Jahr in Marburg gegründet hat. Unter ihnen sind nur wenige Studierende. Die meisten sind um die 50 Jahre alt, berufstätig etwa als Sozialarbeiter, Altenbetreuer, Erzieher, Psychologen oder Naturwissenschaftler. Und sie sind fast alle Eltern, die in Sorge um die Zukunft und die Gesundheit ihrer Kinder sind.

Auch Mitinitiator Stefan Diefenbach-Trommer ist dreifacher Familienvater. Den Anstoß gab Tochter Irma, die eine Aktion der „Klimakleber“ dokumentiert hatte, aber trotzdem von der Polizei festgenommen wurde. Er beschäftigte sich mit dem Thema und kam zu dem Ergebnis: „Die haben Recht.“ Vieles sei nicht mehr aufzuhalten, aber manches noch anzuhalten, sagt der 52-Jährige: „Wir sind die letzte Generation, die noch Maßnahmen treffen kann, um die Klima-Kipppunkte zu verhindern oder abzufedern.“ Mit dieser Aufgabe wollten sie die jungen Leute nicht allein lassen.

Diefenbach-Trommer ist gelernter Journalist – hat seine Ausbildung bei der eher konservativen Oberhessischen Presse gemacht. Seitdem hat er für das Bündnis „Bahn für alle“ und für die Anti-Atom-Initiative „ausgestrahlt“ gearbeitet, Seit knapp zehn Jahren macht er Lobbyarbeit für 200 Vereine und Stiftungen, die sich für eine Neuregelung der Gemeinnützigkeits-Kriterien im Vereinsrecht einsetzen.

2020 wurde er mit dem Menschenrechtspreis „Marburger Leuchtfeuer“ für sein herausragendes Engagement für demokratische Rechte ausgezeichnet. Ex-Oberbürgermeister Egon Vaupel lobte damals, dass Diefenbach-Trommer „mit einer klaren Haltung auf Menschen mit unterschiedlichen demokratischen Positionen offen zugeht“. Und OB Spies bezeichnete ihn als „Demokrat im besten Sinne“.

An den Aktionen der letzten Generation beteiligt er sich als Privatmann. Dennoch strahlt sein Engagement auch in sein Berufsleben. So wurde ihm im Dezember 2022 der Zugang zum Bundestag verweigert, wo er Gespräche mit Bundestagsabgeordneten führen wollte. Auch an einer öffentlichen Veranstaltung mit Bundesfinanzminister Christian Lindner durfte er nicht teilnehmen. Offenbar, weil ihn das Bundeskriminalamt als Mitglied der „Letzten Generation“ führt. „Welche Gefahr geht von mir für Lindner aus?“, fragt Diefenbach-Trommer. Er selbst gibt Trainings für gewaltfreies Handeln, um auf Angriffe ruhig und deeskalierend zu reagieren.

Verteidigt die Letzte Generation auch im Fitnessstudio: Irene von Drigalski

Für Irene von Drigalski war die Kriminalisierung der „Letzten Generation“ der letzte Anstoß, um sich den Aktivisten anzuschließen. Ex-Verkehrsminister Alexander Dobrinth (CSU) hatte sogar von einer Klima-RAF gesprochen. „Das ist ein ungeheuerlicher Vergleich für eine komplett friedliche, im zivilen Widerstand befindliche Organisation“, sagt die 66-Jährige, die sich ehrenamtlich im Marburger Hospiz engagiert.

Vor dem Marburger Amtsgericht bekamen die „Klimakleber“ am Freitag ein relativ mildes Urteil. Es stehen aber noch weitere Verfahren an. So stehen von Drigalski und Diefenbach-Trommer im März vor dem Gießener Amtsgericht, weil sie zwei Fahrstreifen der Licher Straße blockierten. Stefan Diefenbach-Trommer hat zudem eine Rechnung über 450 Euro von der Autobahn GmbH bekommen.

Seit Februar 2022 hat er sich insgesamt viermal auf die Straße geklebt – in Marburg, Gießen und Mannheim. Am schwierigsten findet er den Moment kurz vor dem Festkleben, wenn er sich die orangefarbene Warnweste überzieht und mit der Gruppe an der Ampel steht. Wenn sie dann auf die Straße gehen, greifen sie erst zum Sekundenkleber, wenn die Polizei zu hören oder zu sehen ist. Auch er fürchtet rabiate Autofahrer wie etwa den in Berlin, der ihm Pfefferspray ins Gesicht sprühte, obwohl er dort noch nicht einmal festgeklebt war.

In Marburg wurden die Aktionen schnell beendet, weil die letzte Generation ein Abkommen mit Oberbürgermeister Thomas Spies traf. Sie verzichteten darauf, sich weiter auf Marburgs Straßen festzukleben. Im Gegenzug unterstützte Spies die inhaltlichen Forderungen der „Letzten Generation“ in einem Schreiben an die Fraktionen im deutschen Bundestag. Die vergleichsweise überschaubaren Wünsche – Neun-Euro-Ticket, Tempolimit und die Einrichtung eines Gesellschaftsrats – teilte er ohnehin. Damit war Spies nach Hannover und Tübingen der dritte Oberbürgermeister und der erste Sozialdemokrat, der sich auf diese Weise einigte. Die Marburger CDU sprach von Verhandlungen mit „Demokratiefeinden“ und einem „Kniefall vor Klimaklebern“.

Unterdessen wurde in der grün-rot-rot regierten Nachbarstadt Gießen kein Deal abgeschlossen. Dort setzte die „Letzte Generation“ ihre Blockaden fort.

Aber warum wählen die „Klimakleber“ Aktionen, mit denen sie den Zorn der Autofahrer auf dem Weg zur Arbeit auf sich ziehen? „Die letzte Generation polarisiert total“, räumt Diefenbach-Trommer ein. Aber Demonstrieren, Wählen, Petitionen unterschreiben, mit Fridays for Future auf die Straße gehen und das eigene Konsumverhalten möglichst klimaschonend zu gestalten, hätten offenbar nicht gereicht. „Ohne diesen Protest würde noch viel weniger über die Klimakrise geredet“, sagt Diefenbach-Trommer.

Und warum ausgerechnet Straßenblockaden? „Der Alltag, so wie wir ihn heute führen, kann so nicht weitergeführt werden. Wir stören den Alltag, um damit zu zeigen, was mit der Klimakrise auf uns zukommen wird“, sagt der Aktivist. Welche Störungen in Zukunft zu erwarten seien, sehe man bei den Überschwemmungen im Aartal, den Sturmfluten an der Nordsee, verdorrenden Ernten, Hitzewellen oder dem Verbot, den Wald zu betreten, weil die Bäume von Trockenperioden und Schneelast geschwächt, jederzeit umknicken können. Bereits jetzt steige die Zahl der Hitzetote und der Frühgeburten, sagt von Drigalski. Mit jedem Jahr des Nichthandelns würden künftige Freiheiten eingeschränkt. „Meine Generation hat das verbockt“, sagt die Rentnerin. Deshalb fühle sie sich verpflichtet, die jungen Leute zu unterstützen.

In ihrem Freundes- und Bekanntenkreis erntet sie damit keine Kritik, erzählt von Drigalski. Nur manchmal – etwa, wenn in der Umkleide ihres Fitnesscenters über die „Klimakleber“ geschimpft wird – erntet sie Erstaunen: „Dann sitze ich da in meiner Omahaftigkeit und sage, dass das gar nicht stimmt mit der fehlenden Rettungsgasse bei den Blockaden“, erzählt die Marburgerin. Rettungswagen blieben eher im Stau hinter der Blockade hängen – wenn Autofahrer es versäumen, eine Rettungsgasse zu bilden.

Gesa Coordes

Bild mit freundlicher Genehmigung von Gesa Coordes