Politisch aufgeladene Sprache: Linguistin Constanze Spieß untersucht, welche „Unwörter“ es gibt.

Propaganda beobachtet Constanze Spieß im Ukrainekrieg auf beiden Seiten. In Russland ohnehin, aber auch in der Ukraine und im Westen gebe es eine „enorme verbale Aufrüstung“. US-Präsident Biden nannte den russischen Staatschef Wladimir Putin schon vor den Gräueltaten von Butscha einen „Schlächter“. Bundeskanzler Olaf Scholz sei dafür kritisiert worden, dass er Putin nicht schon bei Kriegsbeginn als Kriegsverbrecher bezeichnete. Zugleich sei das Spielen von russischer Musik – etwa des Humanisten Schostakowitsch – zum „Affront“ gegen die Ukraine geworden.  So pauschal in Schwarz-Weiß-Kategorien zu sortieren, hält die Linguistin für gefährlich, weil sich Konflikte damit noch schneller hochschaukelten. „Auch Sprache hat Gewaltpotenzial“, sagt die Linguistin.

Constanze Spieß weiß, wovon sie spricht. Seit knapp 30 Jahren beschäftigt sie sich mit Sprache und Politik. Und welche Wirkung Propaganda hat, erfuhr sie schon als Jugendliche. Die Sprachwissenschaftlerin ist in Sachsen-Anhalt aufgewachsen, wo sie – so wurde ihr schon in der sechsten Klasse mitgeteilt – nie hätte studieren dürfen. Sie erinnert sich an eine Atmosphäre des ständigen Misstrauens und an Sondergespräche in der Schule, vor allem, nachdem ihre in der Pfarrgemeinde engagierten Eltern einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Im Januar 1989 reiste die Familie aus. Dass zehn Monate später die Mauer fallen würde, ahnte sie damals nicht.

Im Studium – Germanistik und katholische Theologie in Mainz – interessierte sie sich früh für das Verhältnis von Sprache und Politik: „Es fasziniert mich, Sprache aus ganz anderen Perspektiven zu betrachten“, sagt sie. Spieß promovierte über die mediale Diskussion um die Stammzellenforschung an der Uni Trier. In dieser Debatte wurden je nach ethischer Perspektive völlig andere Begriffe verwendet. Dann war die befruchtete Eizelle entweder ein „Zellhaufen“ oder „werdendes Leben“. 

Später forschte sie über Metaphern, vor allem die, die man kaum bemerkt. So ist die Kriegsmetaphorik bei sprachlichen Streits so selbstverständlich, dass sie kaum wahrgenommen wird: Da gibt es einen „Schlagabtausch im Parlament“, da werden „Niederlagen erlitten“ oder „Siege errungen“. Früh kritisierte sie die Formulierungen wie „Flüchtlingslawine“ oder „Flüchtlings-Tsunami“ in der Diskussion um Geflüchtete. Mit dieser Naturkatastrophen-Metaphorik würden Flüchtende bedrohlich. 

Constanze Spieß forschte oder lehrte in Münster, Trier, Dortmund, Bochum Bonn, Wien und Graz. Lange Zeit lebte sie mit ihrer Familie – Mann und drei Töchter – im österreichischen Linz, inzwischen in Frankfurt. Seit 2019 ist sie Professorin für Pragmalinguistik in Marburg. Das Forschungsfeld analysiert zum Beispiel Sprache und Politik, Sprache und Kunst, Sprache und Geschlecht, aber auch sprachliche Gewalt und Sprache in den Medien. 

Zu ihren Themen zählt die Wahlkampfkommunikation: „Parteien erzählen nicht alle dasselbe“, sagt die Wissenschaftlerin. Auch bei Politikerinnen und Politikern zeigten sich verschiedene Denkstrukturen in ihren Formulierungen. So verband die CDU beim Bundeswahlkampf den Klimaschutz mit der Ökonomie. Die Christdemokraten sprachen in ihrer Kampagne grundsätzlich von Klimaschutz,  nicht von Klimakrise. Unterdessen schrieb sich Olaf Scholz das Wort „Respekt“ auf die Fahnen.  

Zu den Forschungsfeldern der Sprachwissenschaftlerin gehört auch die Genderlinguistik, wobei es Spieß vor allem darum geht, dass die Studierenden eine bewusste Entscheidung dazu treffen. Ob gendergerechte Sprache als störend wahrgenommen werde, sei auch eine Frage der Gewöhnung. Sie selbst sucht am liebsten nach Begriffen wie Studierende und Lehrkräfte. 

Seit einem Jahr ist Constanze Spieß Sprecherin der Jury für das „Unwort des Jahres“, eine Institution, die aufklären und zeigen möchte, wenn menschenunwürdige oder antidemokratische Sprechweisen verwendet werden: „Ich möchte, dass den Leuten klar wird, was sie mit ihrer Sprache tun“, sagt Spieß. Gemeinsam mit drei weiteren  Sprachwissenschaftlern und einer Journalistin wählte sie Anfang des Jahres aus mehr als 1300 eingereichten Vorschlägen die „Unwörter des Jahres“ aus. Kriterien: Formulierungen, die gegen die Menschenwürde oder die Demokratie verstoßen, mit denen einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminiert werden oder die beschönigend, verschleiernd oder gar irreführend sind.

Seit einem Jahr ist Constanze Spieß Sprecherin der Jury für das “Unwort des Jahrs.” (Foto: Gesa Coordes)

2021 lautete das „Unwort des Jahres“  „Pushback“. Der englische Ausdruck bedeutet „zurückdrängen“ oder „zurückschieben“. Er „beschönigt einen menschenfeindlichen Prozess“, erläutert Spieß. Das Wort bezeichnet nämlich die Praxis, Flüchtende an der Grenze zurückzuweisen. Es nimmt also Menschen auf der Flucht die Möglichkeit, ihr Grundrecht auf Asyl wahrzunehmen – etwa an der polnisch-belarussischen Grenze. Das Fremdwort verschleiere zudem die Gewalt und die mitunter tödlichen Folgen dieser Praxis.  

Häufig von Bürgerinnen und Bürgern vorgeschlagen wurde das Wort „Gendersternchen“, ein Wort, das aber gleich aussortiert wurde, weil darin weder darin ein Verstoß gegen Menschenwürde oder Demokratie noch eine Diskriminierung steckt. Stattdessen landete der Ausdruck „Sprachpolizei“ auf Platz zwei, weil mit ihm Menschen diffamiert werden, die sich für nicht diskriminierende Sprache einsetzen. Das Wort wurde übrigens sowohl vom grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann als auch von CDU-Politiker Hans-Georg Maaßen benutzt. Die Jury bewertete es als irreführend, weil es nahelege, dass es eine exekutive Instanz gebe, die über die Einhaltung von Sprachregeln wache und die Nichteinhaltung bestrafe. 

Als Unwörter klassifiziert wurden auch die Vergleiche mit dem Nationalsozialismus, die während der Corona-Demonstrationen von Impfgegnerinnen und Impfgegnern verwendet wurden – zum Beispiel Impfnazi, Ermächtigungsgesetz (für Infektionsschutzgesetz) oder der gelbe Stern mit dem Aufdruck „ungeimpft“. „Damit verhöhnen sie den Holocaust“, sagt Spieß. In manchen Fällen komme es sogar zu einer Täter-Opfer-Umkehr. 

Für dieses Jahr sind bislang erst wenige Vorschläge bei der Jury eingegangen. Doch die Einsendungen kommen meist erst im zweiten Halbjahr. Die Sprachwissenschaftlerin vermutet, dass das Unwort 2022 aus den Diskussionen rund um den Krieg in der Ukraine stammen wird. 

Gesa Coordes

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