Seit Februar 2022 haben zahlreiche Geflüchtete aus der Ukraine eine Zuflucht im Landkreis Marburg-Biedenkopf gefunden. Wie sieht ihre Lebenssituation aktuell aus?

Wie viele ukrainische Geflüchtete im Kreis Marburg-Biedenkopf leben, ist schwer zu schätzen. Es sind auf jeden Fall mehr als 4000 Menschen. So viele zählten die Behörden in den ersten Monaten nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Seitdem werden sie nur noch zum Teil erfasst, weil sie im Gegensatz zu den Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan, dem Jemen und anderen Kriegsgebieten der Welt kein Asylverfahren durchlaufen müssen. So kommen viele direkt bei Freunden und Verwandten in der Region unter.
Ihre Zahl steigt nach wie vor. So wurden dem Landkreis allein im letzten Quartal 212 Ukrainerinnen und Ukrainer zugewiesen, davon die meisten über die hessische Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen. Allerdings ist die Zeit der Notunterkünfte vorbei. „Dank einer beispielhaften Welle der Solidarität in der Zivilgesellschaft ist es in enger Kooperation mit den Kommunen und der Stadt Marburg gelungen, die Menschen überwiegend in privatem Wohnraum unterzubringen“, berichtet der Landkreis. Zu Beginn des Krieges mietete die Stadt Marburg das Hostel am Bahnhof sowie Pensionen an, um die Familien unterzubringen. Die Jugendherberge in Biedenkopf nahm vorübergehend Geflüchtete auf. Jetzt gibt es in der Stadt Marburg noch eine größere Unterkunft im ehemaligen Altenheim St. Jakob am Richtsberg, wo etwa 100 Menschen wohnen. Im Kreis gibt es noch kleinere Gemeinschaftsunterkünfte, die sich über die Region verteilen.

Im Unterschied zu anderen Geflüchteten haben die Menschen aus der Ukraine sofort einen legalen Aufenthaltsstatus in Marburg und dürfen gleich arbeiten, Sozialleistungen beziehen, Wohnungen suchen, Kindergeld beantragen und haben Zugang zu Förderprogrammen. Nach Auskunft des Kreises erhalten derzeit rund 2.700 Ukrainerinnen und Ukrainer Sozialleistungen vom Kreisjobcenter. Rund 1900 von ihnen sind erwerbsfähig. Allerdings steckt das Gros von ihnen in Sprachkursen, Fördermaßnahmen, in Elternzeit oder schulischer Ausbildung.
Zudem hat das Jobcenter seit Juni 2022 bereits 928 Mal ukrainische Geflüchtete in Arbeit vermittelt. Sie sind – zum großen Teil auch geringfügig beschäftigt – vor allem in der Gastronomie, im Zimmerservice, im Reinigungsgewerbe, im Lager oder beim Süßwarenhersteller Ferrero tätig.
Rund 30 Prozent der Geflüchteten sind Kinder und Jugendliche, etwa 15 Prozent sind älter als 60 Jahre alt. Allein im Landkreis Marburg-Biedenkopf (ohne die Stadt Marburg) gibt es derzeit 54 Intensivklassen mit 350 Kindern in Grundschulen und 450 Mädchen und Jungen in weiterführenden Schulen. Die Klassen richten sich aber an alle Kinder, die ohne Deutschkenntnisse neu im Land sind. In der Regel bleiben sie maximal zwei Jahre in den Intensivklassen und wechseln dann in den „normalen“ Unterricht.
Nach Einschätzung des städtischen Fachdienstes Migration und Flüchtlingshilfe ist die deutsche Sprache die größte Hürde für die Geflüchteten – egal, welcher Nation: „Deshalb sind Sprachkurse und Begegnungen im Alltag wichtiger Baustein für die Integration von Menschen“, berichtet die Stadt. Ein weiteres großes Problem ist die Suche nach günstigem Wohnraum. Der Landkreis bittet mögliche Vermieter darum, sich telefonisch unter 06421-4057272 oder per Mail unter teamwohnen@marburg-biedenkopf.de zu melden.

Hilfe und Unterstützung

… bekommen Geflüchtete aller Länder in der zentralen Anlaufstelle in der Marburger Mauerstraße 3. Sprechstunden für ukrainische Geflüchtete werden ab März in der Sudetenstraße 24a angeboten. Im Landkreis gibt es ein Netzwerk von ehrenamtlich arbeitenden Flüchtlingsinitiativen. Kontakt: Koordinierungsstelle Flüchtlingsinitiativen Telefon 06421/985460, koordinierungsstelle@integal-online.de.
Weitere Infos:
www.marburg-biedenkopf.de (Stichwort Ukraine)
www.marburg.de (Stichwort Ukrainehilfe).

Hilfe für ukrainische Studierende

Auch aus der Marburger Philipps-Universität heraus gibt es Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine. So konnten mehr als 1000 ukrainische Studierende mit Unterstützung aus Marburg ihr Studium fortsetzen. Gemeinsam mit Professorinnen und Professoren von der Kyiv National Economic University wurde ein Angebot konzipiert, das digitale Kurse auf Lernplattformen bietet. Zudem entwickelt der Marburger Fachbereich Wirtschaftswissenschaften einen neuen Masterstudiengang, der Teile der deutschen und ukrainischen Studieninhalte miteinander verbindet. Damit können ukrainische Studierende ihr Studium im Heimatland oder in Marburg fortführen, Studienleistungen kombinieren und einen Abschluss machen. Das Projekt besteht aus digitalen Kursen. Zudem hat die Universität unmittelbar nach Kriegsbeginn mit städtischer Unterstützung einen Hilfsfonds eingerichtet, der bedürftigen ukrainischen Studierenden zugutekommt.
Besonders bemerkenswert ist die Initiative „Bruks“ von russischen, kasachischen, belarussischen und ukrainischen Studierenden, die nur wenige Wochen nach dem Überfall auf die Ukraine gegründet wurde. Ehrenamtlich engagieren sich die jungen Leute als Dolmetscher, helfen beim Ausfüllen von Anträgen und beim Kontakt mit Behörden und Ärzten. Sie haben eine Telegram-Gruppe, den sogenannten Bruks-Chat, der inzwischen mehr als 1000 Mitglieder hat. Die Initiative hat allerdings ein Problem: Weil sich die Engagierten auch um ihr Studium kümmern müssen oder nur begrenzte Zeit in Marburg leben, fehlen ehrenamtliche Dolmetscherinnen und Dolmetscher.

gec

Bild mit freundlicher Genehmigung von Hochschulgruppe BRUKS