Die blinde Journalistin Julia Mostova aus der Ukraine lebt seit zwei Jahren in Marburg.

Seit zwei Jahren herrscht Krieg in der Ukraine. Seit knapp zwei Jahren war Julia Mostova nicht mehr dort. Wie jeden Tag wird die blinde Journalistin am Samstag mit ihrer Familie in Kiew telefonieren: „Glücklicherweise ist meine Mutter immer sehr positiv“, sagt die 32-Jährige. Sorgen macht sie sich natürlich trotzdem. Freunde von ihr sind an der Front. Bekannte sind bei Raketenangriffen gestorben: „Ich bin froh, hier zu sein“, sagt sie.
Seit März 2022 lebt Julia Mostova mit ihrem Mann Roman in Marburg. Sechs Tage lang war sie in überfüllten Zügen unterwegs gewesen. An der Grenze zu Polen hatten sie gezittert, weil alle Männer den Zug verlassen mussten. Ihr Ehemann Roman durfte wegen seiner Sehbehinderung aber wieder einsteigen. In München erreichte sie die Mail der Marburger Blindenstudienanstalt, die dem Paar ein Zimmer in einer Wohngruppe zusicherte. Als sie in der Universitätsstadt ankamen, war es nachts um 2 Uhr. Sie hatten angenommen, dass es ein Bahnhofscafé oder zumindest eine geöffnete Wartehalle gebe. Doch der Marburger Hauptbahnhof ist um diese Uhrzeit geschlossen. Ihr Glück: Ein Familienvater nahm die beiden kurzerhand mit und ließ sie im Gästezimmer übernachten.

„Wir bekamen sehr starke Unterstützung, viel mehr, als wir erwartet haben“, sagt Mostova. Rund ein Jahr lang lebten sie gemeinsam mit bis zu sieben weiteren ukrainischen Flüchtlingen in einer Wohngemeinschaft der Blista. Die Blindenstudienanstalt half bei den Behörden, lud jeden Tag zum Mittagessen im Speisesaal der Schule ein, organisierte Eingliederungshilfe und unterstützte bei der Wohnungssuche. Julia und Roman fanden ganz in der Nähe eine Dachwohnung. Roman Mostovyi arbeitet inzwischen als Vollzeitkraft im Bautechniker-Team der Blista. Eine weitere Ukrainerin aus der Wohngruppe ist im Hauswirtschafts-Team tätig.
Für Julia Mostova ist es nicht leicht, einen Job zu finden. In Kiew hat sie als Journalistin gearbeitet. Trotz ihrer Sehbehinderung konnte sie gut davon leben. Sechs Jahre lang war sie Parlamentsreporterin für kleinere Zeitungen, Magazine und Online-Medien. Eine Freundin des heutigen Präsidenten Wolodimir Selenski ist sie allerdings nicht. Sie erinnert daran, dass er in Russland ein beliebter TV-Star war. Zudem habe sich die Pressefreiheit unter seiner Ägide verschlechtert. „In der ukrainischen Bevölkerung ist Selenski nicht populär“, sagt die Journalistin. Sie berichtet von Männern, die aus Angst vor einer Rekrutierung nicht mehr auf die Straße gingen.

An den Tag vor dem russischen Überfall erinnert sie sich gut. Sie war damals davon überzeugt, dass es keinen Krieg geben werde: „Ich dachte, Putin ist nicht so blöd“, sagt sie. Am nächsten Morgen erwachte sie von den Detonationen der Bomben. Es war zugleich das Ende ihres früheren Lebens.
Nur einen Tag später hätte ihr erstes Buch präsentiert werden sollen. Darin geht es um Hexen, Drachen und Waldgeister. Tatsächlich erschien der Band mit dem Titel „Mystische Legenden der ukrainischen Unterwelt“ dann erst Monate später und konnte bislang nur in Polen vorgestellt werden. Jetzt sucht sie nach einer Möglichkeit, das Buch auf Deutsch zu veröffentlichen.

Als sie nach Marburg kam, gehörte sie zu den wenigen Ukrainerinnen, die bereits bei ihrer Ankunft fast fließend deutsch sprechen konnten: „Deutsch ist mein Hobby“, sagt Julia Mostova, die schon in der Schule Deutsch gelernt hat: „Diese Sprache hat mich fasziniert. Sie klingt ein bisschen dämonisch für mich“, sagt die Gothic-Anhängerin. Mostova hat sich intensiv mit den Gruselgeschichten aus ihrer Heimat befasst: „Diese Legenden tauchen intensiv in die schlimmsten Tiefen der menschlichen Natur ein“, sagt die 32-Jährige.
Gerade hat sie ein Drehbuch über „Die blutige Geschichte des Vampirlandes“ geschrieben, das sie nun an Filmstudios schicken will. Die Handlung basiert auf ukrainischen Legenden über historische Personen. Im Mittelpunkt stehen die grausame Königin und Vampirin Bona Sforza sowie ihre Jägerin, die sich in einen Werwolf – den Sohn der Königin – verliebt.

Für ihren Ehemann Roman hat sich unterdessen ein kleines Wunder ereignet. Als er nach Marburg kam, hatte er eine Sehkraft von etwa 40 Prozent. Doch eine Marburger Optikerin schenkte ihm kostspielige Skeral-Kontaktlinsen, mit denen seine Sehstärke auf 75 Prozent stieg. Damit gilt er nicht mehr als sehbehindert und macht inzwischen seinen Führerschein.
Das Paar möchte nicht zurück in die Ukraine – nicht nur, weil sie glauben, dass der Krieg noch Jahre dauern wird. Ihre Heimat sei noch von der sowjetischen Kultur geprägt, urteilt Mostova. Es gebe viel Korruption und mehr Diskriminierung als in Deutschland. „Es gibt nicht viel Toleranz für Menschen, die anders sind“, sagt die Journalistin. In der Ukraine sei es auch vor dem Krieg gefährlich gewesen, nachts auf der Straße zu sein. Dagegen genießen sie die Ruhe in Marburg, wo sie noch nie Aggression auf der Straße erlebt haben und wo nachts die Musik nicht aufgedreht wird: „Das ist eine ganz andere Welt. Die Gesetze funktionieren“, freut sie sich.
Fremd fühlen sie sich nicht. Sie haben Freunde gefunden, kochen zusammen mit den Nachbarn und besuchen die zahlreichen Schlössern und Burgen der Region. Den Grimmweg mit den Figuren aus den Grimmschen Märchen mag Julia Mostova besonders gern. Und sieht eine Parallele zu ihrer Arbeit: „Auch die Brüder Grimm haben Gruselgeschichten geschrieben, die auf Folklore beruhen.“

Gesa Coordes

Bild mit freundlicher Genehmigung von Georg Kronenberg | Marbuch Verlag GmbH