Marburg steckt in finanziellen Turbulenzen. Der einstige Hoffnungsträger Biontech verzeichnet hohe Verluste und reißt damit ein Millionenloch in den Stadthaushalt. Die Stadt muss sparen – doch wo genau, ist unklar. Welche Einschnitte drohen – und wie die Politik darauf reagiert.
„Haben die Behringwerke Husten, hat die Stadt Grippe“, lautet ein geflügeltes Marburger Sprichwort. Und in der Tat: Mindestens eine der großen Pharmafirmen auf dem Gelände der ehemaligen Behringwerke im Westen Marburgs hustet und kränkelt beträchtlich. Ausgerechnet der Hoffnungsträger Biontech verzeichnet einen weltweiten Verlust von 700 Millionen Euro und will nun seine Belegschaft in Marburg halbieren.
Und das heißt zugleich, dass die Stadt Marburg einen massiven Einnahmeverlust verkraften muss. Für 2024 hat die Stadt rund 100 Millionen Euro weniger in der Kasse. „Das ist wirklich scheiße“, sagt Oberbürgermeister Thomas Spies unverblümt. Damit muss auch das wohlhabende Marburg massiv sparen. Es gibt bereits eine Stellenbesetzungssperre, die vor allem den sogenannten „freiwilligen Bereich“ betrifft.
Wo genau der Rotstift angesetzt werden soll, ist in der von SPD, Grünen und Klimaliste regierten Stadt allerdings noch offen. „Wir gehen jetzt Fachdienst für Fachdienst, Budget für Budget durch“, sagt OB Spies, der weder die Beschäftigten der Stadtverwaltung noch die freien Träger verunsichern will. Bei der Analyse müsse berücksichtigt werden, ob es sich um nicht vermeidbare Pflichtaufgaben, um darüber hinausgehende Kür oder um freiwillige Leistungen handelt. Bis zur Sommerpause soll ein Zwischenergebnis vorliegen. Das Konsolidierungskonzept soll dann gemeinsam mit allen Fraktionen in der Stadtverordnetenversammlung abgestimmt werden: „Ich hätte gern eine breite Mehrheit dafür“, sagt Spies.
Die konservative Opposition aus CDU, FDP und „Bürgern für Marburg“ hat unterdessen eine neue Diskussion um das sogenannte „strukturelle Defizit“ aufgemacht. Dabei geht es um die Frage nach einer grundsätzlichen Finanzlücke, vor der sie schon vor Jahren warnten. Marburg habe ein „massives Ausgabenproblem“. Deshalb müsse man sich jetzt auf „wenige Schwerpunkte beschränken und bei den anderen freiwilligen Leistungen sofort vorbehaltlos sparen“, schreiben sie.

CDU-Fraktionsvorsitzender Jens Seipp drückt es im Gespräch mit dem Marburger Express etwas vorsichtiger aus: „Wir können erst solide etwas sagen, wenn die Zahlen der Verwaltung auf dem Tisch liegen.“ Von den Einsparungen getroffen würden voraussichtlich „mehr oder weniger alle“.
Dagegen hat die FDP den Eindruck, dass sich Oberbürgermeister Thomas Spies „aus der Verantwortung stiehlt“, wie der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Michael Selinka formuliert: „Er hat immer mehr Personal aufgebaut und Geld ausgegeben, ihm sind die Kosten aus dem Ruder gelaufen.“ Nun müsse er konkrete Sparvorschläge machen.
Besonders kritisch beäugt werden die Personalkosten, die sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt haben. Darin stecken die Tarifsteigerungen von rund 20 Prozent und die Inflation von rund 20 Prozent. Entscheidend ist aber, dass die Zahl der Beschäftigten um 400 Stellen stieg, was der FDP-Stadtverordnete Michael Selinka schlicht „wahnsinnig“ findet. Den Personalzuwachs auf heute 1242 Stellen erklärt die Stadtverwaltung vor allem aus neuen Aufgabengebieten von Bund und Land, etwa in der Ausländerbehörde, im Fachdienst Migration, beim Wohnrecht und im Vergaberecht. Sehr teuer ist auch die Kinderbetreuung, für die insgesamt 100 Stellen geschaffen wurden. Das liegt nicht nur am Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung und der stark gewachsenen Nachfrage, sondern entspricht auch dem Willen der Stadt, die damit die Grundschul- und die Kinderbetreuung deutlich verbessert hat. Durch das Onlinezugangsgesetz müssen die Kommunen zusätzliche Aufgaben im Bereich der Digitalisierung erfüllen, wo 36 neue Mitarbeiter eingestellt wurden. Noch unter CDU-Bürgermeister Wieland Stötzel wurde die Stadtpolizei eingerichtet, die einschließlich Verkehrsüberwachung jetzt 24 Stellen (ohne Innendienst) hat. Kernaufgabe ist die Aufrechterhaltung der allgemeinen Sicherheit und Ordnung.
Froh sind alle Beteiligten über den Masterfonds, den die Stadtspitze eingerichtet hat, als die Gewerbesteuereinnahmen noch sprudelten. 350 Millionen Euro legte Marburg damals zurück. Um den Haushalt auszugleichen, konnte die Stadt nun auf dieses „Sparbuch“ zurückgreifen. Jetzt sind noch rund 200 Millionen Euro übrig. Wird nicht gespart, wäre allerdings auch Marburg spätestens 2028 pleite. So wie bei vielen anderen hessischen Kommunen würde dann das Regierungspräsidium als Aufsichtsbehörde eingreifen und dafür sorgen, dass nur noch das Nötigste ausgegeben wird. Diese Situation wollen die Parlamentarier auf jeden Fall vermeiden, weil sie dann nicht mehr selbst entscheiden könnten, wo sie Schwerpunkte setzen.
Verändert werden könnte natürlich auch die Einnahmen-Seite. Die Linken fordern schon seit Jahren, den Gewerbesteuer-Hebesatz wieder zu erhöhen. 2021/22, nachdem die Gewerbesteuereinnahmen auf den Rekordsatz von 481 Millionen Euro geklettert waren, wurde der Hebesatz „auf das niedrigst mögliche Niveau“ gesenkt, kritisiert Fraktionsvorsitzende Renate Bastian. 2024 wurde er nach Vorgaben des Landes wieder auf 380 Punkte erhöht. Das sei aber immer noch nicht bundesdeutsches Normalniveau, sagen die Linken.
Aber auch das möchte Spies nicht kommentieren. „Wir sind am Beginn einer systematischen Prüfung“, sagt der Oberbürgermeister: „Das werden wir jetzt alles in Ruhe miteinander betrachten.“
Gesa Coordes