Mobilitätskonzept Move 35 will mehr Radler und weniger Autos.

Die Stadt Marburg hat ein neues Aufreger-Thema: Move 35 heißt das Mobilitäts- und Verkehrskonzept, das dabei helfen soll, die Universitätsstadt in den nächsten Jahren klimaneutral zu machen. Seit wenigen Tagen ist es öffentlich. Die Leserbriefspalten mit erbosten Kommentaren füllen sich aber schon seit Wochen. Kaufhauschef Peter Ahrens schaltete eine zweiseitige Anzeige, um den „irreparablen Schaden“ durch Move 35 zu schildern. Und die Opposition forderte einen Bürgerentscheid und eine Verschiebung des Beschlusses der Stadtverordnetenversammlung, der für 21. Juli geplant ist: „Eine Entscheidung von so einer Tragweite peitscht man nicht einfach vor der Sommerpause durchs Parlament“, sagt CDU-Fraktionsvorsitzender Jens Seipp.

Dagegen betont der Marburger Baustadtrat Michael Kopatz (Klimaliste): „Die Unruhe bezieht sich auf Berichterstattung und Diskussionen, die geführt wurden, bevor Move 35 überhaupt fertiggestellt und veröffentlicht war.“ Die Debatte habe sich nun auf die falsche Annahme zugespitzt, dass in Marburg das Autofahren verhindert oder verboten werden solle: „Das stimmt nicht“, sagt Kopatz: „Wenn man sich die Studie anschaut, gibt es für diese Angst keine Veranlassung.“ Es handele sich um ein Rahmenkonzept, das die Richtung vorgebe: „Die umstrittenen Vorschläge aus dem Konzept gehen ohnehin in den kommenden Jahren nochmal einzeln durchs Stadtparlament“, sagt Kopatz.

Doch der Reihe nach: Das Mobilitätskonzept Move 35 wurde bereits 2019 noch unter der alten Stadtregierung von SPD, CDU und „Bürgern für Marburg“ angestoßen, die damit eine visionäre, ganzheitliche Mobilitätsstrategie entwickeln wollte. Mit der neuen Koalition aus Grünen, SPD und Klimaliste wurden die Ziele 2021 weiter präzisiert. Schon bis 2030 will Marburg klimaneutral sein. Zudem soll der Anteil derjenigen erhöht werden, die zu Fuß, mit dem Rad oder dem Bus in Marburg unterwegs sind. Der Anteil der Autofahrer soll „möglichst halbiert“ werden.
Zu Move 35 gehörte eine nach Einschätzung der Stadtverwaltung aufwändige Bürgerbeteiligung. Rund 3800 Menschen füllten die Online-Fragebögen aus. Es gab mehrere Workshops. Eine 40-köpfige Arbeitsgruppe aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Initiativen sowie zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern begleitete den Prozess. Auch die Ortsbeiräte konnten mitarbeiten.
Mithilfe all dieser Vorschläge und Anregungen und der eigenen Untersuchungen hat die von der Stadt beauftragte Planersocietät daraus ein 250 Seiten starkes Konzept erstellt, das den Ist-Zustand analysiert und Vorschläge für alle Verkehrsarten macht. Dazu werden die Maßnahmen in jeweils drei verschiedenen Szenarien auf ihre Klimawirkung hin berechnet. „Was wir wann anpacken, müssen wir im politischen Prozess sehen“, sagt Kopatz.

Mehr Raum für Radler gehört zum Mobilitäts- und Verkehrskonzept Move 35.

Das Ziel ist jedoch eine umfassende Mobilitätswende, die den Straßenraum gerechter aufteilen und die Bedingungen für Fußgänger, Radler und Busnutzer verbessern will. Bereits im Koalitionsvertrag steht, dass der Autoverkehr „möglichst halbiert“ werden solle. Das ist auch das „ideale Ziel“ von Move 35, sagt Kopatz. Er ist aber davon überzeugt, dass eine reine Verbesserung der Angebote – weiterer Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und der Radwege – nicht reichen werden, um die Menschen zum Umstieg zu bewegen: „Wenn ich besser, schneller und bequemer mit dem Auto zu meinem Arbeitsplatz fahren kann als mit dem Bus, kriege ich die Leute nicht dazu, in den Bus zu steigen“, sagt der Dezernent: „Dann bleiben die Busse leer.“ Um die Motivation zu erhöhen, müsse das Parken teurer und weniger bequem werden. Anwohnerparken für 30 Euro im Jahr sei viel zu günstig. Und auch andere Parkgebühren müssten moderat steigen. Die Einnahmen daraus sollten in Marburg in den öffentlichen Nahverkehr und den Radverkehr fließen. Dass jedes Jahr – wie zuletzt in örtlichen Medien berichtet – zehn Prozent der Parkplätze abgebaut werden sollen, schwebt ihm allerdings nicht vor. Vielmehr entfallen Stellplätze wie derzeit in der Biegenstraße, damit die Radler sicherer auf Schutzstreifen fahren könnten. Um den Platz für die Radspur zu schaffen, wurden die Parkplätze nun parallel zur Straße angelegt – anstelle der bislang schräg angeordneten Parkplätze.

Auch der Radfahrer-Anteil von derzeit elf Prozent soll möglichst rasch auf 20 Prozent steigen. Um dies zu erreichen, müssten sich die Radfahrerinnen und Radfahrer „willkommen und sicher fühlen“, sagt Kopatz. In Marburg gebe es aber jedes Jahr mehr als 70 Radler, die bei Verkehrsunfällen verletzt werden. Es gebe trotz zahlreicher Verbesserungen immer noch viele Gefahrenstellen. Zudem gehe es um die „gefühlte Sicherheit“. Wenn ältere Menschen sich nicht sicher fühlten, radelten sie nicht durch die Stadt. Auch Eltern schicken ihre Kinder nicht mit dem Rad zur Schule, wenn sie sich Sorgen um ihre Sicherheit machen.

Verkehrsversuch im Schulviertel
Bereits bis 2025 geplant ist ein Verkehrsversuch im Schulviertel der Leopold-Lucas-Straße, wo vor allem Elterntaxis mit Wendemanövern auf dem Zebrastreifen für gefährliche Situationen für die Kinder und Jugendlichen sorgen, die mit dem Rad oder zu Fuß zur Schule kommen. Jeweils zu Beginn und zum Ende des Schulbetriebs soll die Straße zwischen Schwanallee und Bachweg gesperrt werden. Die Gutachter gehen davon aus, dass ein Teil der Elterntaxis damit ganz eingestellt werden. Zugleich soll es aber weitere Verkehrsberuhigung für die Ockerhäuser Straße, den Zwetschenweg und den Bachweg geben.

Sperrung am Grün
Ein weiteres Projekt, das bereits in den nächsten zwei Jahren verwirklicht werden soll, ist die Sperrung eines Teils der Straße am Grün. Dadurch soll das Südviertel – vor allem die Universitätsstraße – von Verkehr entlastet werden. Dort könnte auch eine neue Einbahnstraßenregelung für weniger Durchfahrtverkehr und ruhigeres Wohnen sorgen.

Die Opposition aus CDU, FDP und „Bürgern für Marburg“ hält die Maßnahmen für so „fatal“, dass sie einen Bürgerentscheid zu Move 35 beantragte. Dies wurde von der grün-roten Mehrheit im Parlament abgelehnt. CDU-Fraktionsvorsitzender Jens Seipp sieht in dem Konzept „eine ideologische und überstürzte Interessenpolitik“. Michael Selinka (FDP) spricht von „Ideologen“, die den Bürgerinnen und Bürgern ihr Konzept „überstülpen“ wollten. Und Andrea Suntheim-Pichler von den „Bürgern für Marburg“ sagt: „Alles mit der Brechstange durchsetzen zu wollen, ohne genaue Erklärungen über den Ablaufplan, hat nichts mit bürgernaher Politik zu tun.“
Dagegen widerspricht Sara Müller von der BI Verkehrswende, die an der Move-35-Arbeitsgruppe beteiligt war: „Es ist völlig falsch zu behaupten, dass das Konzept übers Knie gebrochen wurde.“ Das Verfahren sei „ziemlich transparent“ gewesen. Zudem waren alle Marburger Parteien in der Arbeitsgruppe zu Move 35 vertreten.

Allerdings beerdigt das Konzept seit Jahren diskutierte konservative Verkehrsideen wie den Behringtunnel, die als mehr als einen Kilometer lange Röhre durch den Wannkopf führen und das Nadelöhr an der Ketzerbach entlasten könnte. Der Bau würde nicht nur Jahrzehnte dauern und viel Natur zerstören. Er würde es auch noch attraktiver machen, mit dem Auto zu fahren.

Gesa Coordes

Analyse des bestehenden Verkehrs

Bislang ist das Auto das wichtigste Verkehrsmittel in Marburg. Nach der Mobilitätsuntersuchung von 2018 werden 42 Prozent aller Wege mit dem Auto zurückgelegt. Der Fahrradanteil liegt bei elf Prozent. 15 Prozent gehen auf Busse und Bahnen. Der Anteil der Fußgänger liegt mit knapp einem Drittel relativ hoch.
Für Fußgänger sind die Straßenräume laut Move 35 häufig zu autoorientiert gestaltet. Der Radverkehr hat nach Einschätzung der Gutachter noch viel Potenzial. Problematisch sei vor allem die Breite der bestehenden Radwege, was häufig zu Schwierigkeiten mit Fußgängern und Autofahrern führe. Zudem fehlten Radabstellanlagen. Abseits der Kernstadt weise das Radverkehrsnetz große Lücken auf.

Die Situation für Radler in der Elisabethstraße wurde inzwischen etwas entschärft. Autos und Laster parken aber immer noch oft so, dass es für Radfahrer gefährlich wird.

Busse und Bahnen werden im hessischen Vergleich überdurchschnittlich gut genutzt. Die Kernstadt ist den Planern zufolge mit vielen Buslinien und einem dichten Takt gut erschlossen. Manche Ortsteile werden jedoch auch in der Hauptverkehrszeit oft nur stündlich angefahren. Zudem fehlten gute Verbindungen zwischen den Ortsteilen sowie am Abend und am Wochenende. Auch für Standorte wie die Behringwerke und die Universität seien die Busverbindungen noch nicht attraktiv genug. Dagegen seien die Buspreise vergleichsweise günstig.
Kritisch betrachtet das Konzept den Parksuch-Verkehr. Nach der Analyse der Planersocietät gibt es in der Kernstadt ausreichend Parkraum. Allein in den Parkhäusern sind es 3000 Stellplätze, dazu das Angebot im öffentlichen Straßenraum. Allerdings parken viele Autofahrer am liebsten am Straßenrand, was zu Parksuch-Verkehr in den Wohnvierteln führt, obgleich die Parkhäuser vergleichsweise wenig ausgelastet sind. Zudem brauchen die parkenden Autos viel Platz. Allein im öffentlichen Straßenraum des Südviertels entspricht dies einer Fläche von zweieinhalb Fußballfeldern. Um die Wohnviertel zu entlasten, soll das Parken in den Parkhäusern attraktiver werden.

Infomarkt zu Move 35

Vor der offiziellen Vorstellung des Mobilitätskonzepts am 13. Juli im Mobilitätsausschuss (18 Uhr, Barfüßer Str. 11) können sich Bürgerinnen und Bürger bei einem Infomarkt im Marburger Rathaus über Move 35 informieren. Eröffnet wird die Ausstellung am Montag, 10. Juli, um 18 Uhr. Sie ist dann bis zum Donnerstag, 13. Juli, täglich von 8 bis 18 Uhr im Rathaus zu sehen.

gec

Bild mit freundlicher Genehmigung von Gesa Coordes