Dass in Marburger Studierende in prekären Verhältnissen wohnen, ist längst kein Geheimnis mehr. Alena und Fiete vom Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) helfen denjenigen, die sonst auf der Straße landen. Ein Gespräch über winzige WG-Zimmer, Bettwanzen und Rassismus auf dem Marburger Wohnungsmarkt.

Kümmern sich die Marburger Studierenden einfach zu spät um ihre Wohnungen?

Alena: Dadurch, dass ich selbst eineinhalb Jahre gesucht habe, sage ich dazu nur: Bullshit. Klar, es gibt immer Menschen, die sich nicht früh genug kümmern, aber das sind Ausnahmen. Wir wissen von Menschen, die 500/600 Euro bezahlen können und trotzdem einfach nichts finden. Es liegt nicht daran, dass der Wohnungsmarkt grundsätzlich überfüllt mit Suchenden ist. Die Bedingungen sind grundsätzlich scheiße und die Angebote sind zu teuer.
Fiete: Es gibt auch Zahlen dazu: Die Website wohnungsboerse.net hat die eingestellten Wohnungen beobachtet und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Durchschnittsmiete bei einer Wohnung von 30 qm seit 2011 mehr als verdoppelt hat. Nach drei Jahren ziehen Studierende aus, dann kommt eine Mieterhöhung und so geht es immer weiter. Wohnen ist aber keine Ware, die sich dem Markt anpassen sollte, sondern ein grundlegendes Bedürfnis.

Was sind eure Erfahrungen mit dem Marburger Wohnungsmarkt?

Alena: Ich habe vorher auf dem Richtsberg gewohnt und wollte dann näher zum Geschehen in die Stadt ziehen. Eineinhalb Jahre habe ich dann nach einer bezahlbaren Wohnung gesucht, in der ein Mindestmaß an Ordnung herrscht. Einmal besichtigte ich dann ein Zehn-Quadratmeter-Zimmer, in dem eine Küche integriert war, und der Fall ist repräsentativ für den Marburger Wohnungsmarkt: Über eine Leiter konnte ich zu einem zweiten Zimmer klettern, welches direkt unter dem Dach lag und ich da deswegen nicht stehen konnte, da wäre gerade so Platz für eine Matratze – ohne Bettgestell. Ich bin dann zum Bad gekrabbelt, also wirklich gekrabbelt, welches an dieses Dachbodenzimmer angeschlossen war, und nur ein Klo und eine Badewanne hatte und stehen konnte ich hier auch nicht. Um die 450 Euro haben die für die Zimmer verlangt, indem das Klo nicht mal stehend benutzt werden konnte.

Wie hast du dann eine Wohnung gefunden?

Alena: Im Endeffekt durch Vitamin-B; bei einer Freundin ist ein Mensch aus ihrer WG gezogen und hat mir ihr Zimmer vermittelt. Als das damals bei WG-Gesucht reingestellt wurde, haben sich am ersten Tag 50 Leute beworben.

Die Studierenden wenden sich ja mit konkreten Anliegen an euch. Habt ihr da Beispiele?

Fiete: Studierenden mussten aufgrund von Wohnungsnot in Ferienwohnungen und Hotels wohnen, weswegen Kosten in Höhe von mehreren tausend Euros entstanden.
Alena: Wir hatten unter anderem Informationen von Studierenden, die im Studentenwohnheim gewohnt haben, die beispielsweise Bettwanzen hatten und es wurde sich nicht genug darum gekümmert. Zusätzlich sind die Wohnheime teilweise sehr marode. Dann gab es noch die Situation, dass Studierende hier keine Wohnungen bekommen haben und stundenlang zur Uni gependelt sind oder dass ausländische Studierende ganz andere Mietverträge im Studentenwohnheim bekommen haben als deutsche Studierende.

Was genau war da anders?

Fiete: Die hatten verschiedene Laufzeiten – bei manchen waren es vier Jahre, bei anderen fünf. Eine Person ist dann zu uns gekommen und hat gerade ihre Doktorarbeit geschrieben und einen Monat vor Ende der Arbeit musste er aus dem Studentenwohnheim ausziehen. Jeder hat da einen eigenen Vertrag und man kann nicht richtig durchblicken. Das Problem beim Thema Wohnen-zur-Miete ist, dass es so ein krasses Machtgefälle zwischen Vermietung und Mietenden gibt.
Alena: Das bedeutet auch, dass das Thema mit Rassismus und Sexismus im Zusammenhang steht. Es sind hauptsächlich ausländische Studierende, die hier keine Wohnung finden. Dann höre ich immer wieder von Frauen, die sich nicht trauen, alleine zu Besichtigungen zu gehen aus Angst, belästigt zu werden.
Fiete: Die Leute melden sich bei uns meistens, wenn sie sehr verzweifelt sind.

Sollten die sich früher bei euch melden?

Alena: Eigentlich gibt es andere Stellen, an die sich Studierende zuerst wenden. Zum einen gibt es da das Studentenwerk, welches Schlafplätze bietet, jedoch nur um die zwei Tausend und bekanntlich studieren um die 23 Tausend Menschen hier. Zum anderen hilft das International Office ausländischen Studierenden. Bei beiden Stellen melden sich die Studierenden, die Angst haben, in die Wohnungsnot zu rutschen. Die Leute, die sich bei uns melden, haben in der Regel schon keine Wohnung mehr.

Woran liegt das?

Alena: Die haben bei den anderen Stellen wahrscheinlich keine oder erst zu spät Hilfe bekommen. Gründe dafür stellen Sprachbarrieren und Schamgefühle dar, weil nicht eigenständig eine Wohnung gefunden wurde.

Was passiert, wenn die Studierenden keine Wohnung mehr haben?

Fiete: Anfang des Semesters gibt es vom Studentenwerk immer Notunterkünfte. Die waren Ende September 2022 schon voll. Ende Dezember, eigentlich viel zu spät, konnten wir durch ein Gespräch mit Oberbürgermeister Spies bewirken, dass die Stadt von Dezember bis Anfang Januar noch zusätzliche Notunterkünfte angeboten hat.

Wie war das Gespräch so?

Fiete: Mit Gesprächen ist das ja immer so ’ne Sache, weil man ja viel erzählen kann. Wir haben auf jeden Fall eine gewisse Langfristigkeit erreicht, weil wir im Frühjahr mit dem Spies noch ein Treffen haben, bei dem wir einen runden Tisch planen wollen, wo alle Verantwortlichen zusammenkommen und wir die Lage für die nächsten Semester besprechen können. Ich glaube, dass das ein großer Erfolg ist.

Definiert ihr es als eure Aufgabe, Studierenden in Not zu helfen?

Fiete: Nein, eigentlich verstehen wir uns als politisches Referat und wollen damit klarstellen, dass unser Fokus nicht auf den Dienstleistungen liegt.

Wenn ich euch nun so zuhöre, bietet ihr jedoch genau diese an, oder?

Fiete: Wir können die Leute ja nicht auf der Straße stehen lassen und die Situation hatten wir insbesondere Anfang des Semesters, dass wir dann doch Dienstleistung anbieten mussten. Wir bekommen halt Dinge mit, die andere Stellen übersehen. Trotzdem haben wir uns Gedanken über langfristige Strukturen gemacht, die die Wohnungsnot unter Studierenden in den kommenden Semestern verhindern, was wir als unsere Hauptaufgabe ansehen.

Wie wollt ihr diese langfristigen Strukturen umsetzen?

Fiete: Bei dem Folgegespräch mit dem Oberbürgermeister Spies hoffen wir, dass die Stadt entsprechende Strukturen und Finanzierungen schafft.

Was hat die Situation auf dem Wohnungsmarkt für Auswirkungen auf das Studium der Suchenden?

Alena: Die Wohnungssuche ist ein riesiger Stressfaktor: Worauf willst du dich konzentrieren, darauf, dass du ein Zimmer hast, wo du leben und schlafen kannst, oder auf dein Studium? Meist läuft das Studium dann nebenher oder wird nach monatelanger erfolgloser Wohnungssuche abgebrochen. Auch wenn Studierende in schlechten Wohnverhältnissen leben, wenn es dunkel, dreckig, schimmelig ist, dann ist es da schwierig, zu lernen. Gerade in den Hochphasen des Studiums ist es schwierig, in die Bibliothek auszuweichen, weil es auch hier super voll ist.
Fiete: Existenzielle Sorgen sind bei der Wohnungssuche in Marburg die Folge. Zudem pendeln viele Studierende stundenlang, weil sie in Marburg keine Wohnungen bekommen, was sich erheblich auf die Zeit auswirkt, die für das Studium übrig bleibt. Die Teilnahme am Vollzeitstudium kann so massivst erschwert oder sogar unmöglich gemacht werden.

Interview: Leonie Theiding

Hintergrund:

Alena und Fiete leiten das politische Referat für Wohnen und studentische Infrastruktur, das im AStA verankert ist. Sie wollen insbesondere darauf aufmerksam machen, dass die Wohnungsnot in Marburg kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem darstellt. Beide studieren Soziologie im Bachelor. Wenn Sie das Thema unterstützen wollen, können Sie hier ihre Petition unterstützen.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Politisches Referat für Wohnen und studentische Infrastruktur