Jürgen Margraf hat das “Marburger Modell” entwickelt, das Menschen mit Angststörungen oder Panik-Attacken hilft. Mit dem Express hat der Psychologe darüber gesprochen, wie sich Pandemie, Krieg und Klimawandel auf die geistige Gesundheit auswirken.

Während der Pandemie waren vor allem Kinder und Jugendliche ängstlicher, depressiver und gestresster. Bislang haben weder der Krieg in der Ukraine noch die Klimakrise vergleichbare Auswirkungen, sagt der Angstforscher Prof. Jürgen Margraf. Sein Konzept zur Behandlung von Panik-Attacken hat er in Marburg entwickelt. Unter dem Titel „Marburger Modell“ wird es bundesweit angewandt.
Jeder vierte Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens eine Angststörung. Frauen trifft es häufiger als Männer. Das elterliche Vorbild spielt eine viel größere Rolle als die genetische Veranlagung. Goethe, Freud und Brecht hatten sogar Panikattacken. „Angst geht jeden an“, sagt der Psychologe Jürgen Margraf. Normalerweise warne sie vor Gefahren und bereite den Körper auf schnelles Handeln vor. Problematisch wird sie, wenn die Angstreaktion zu lange anhält oder ohne ausreichenden Grund auftritt. Daraus können sich auch Depressionen entwickeln.

Der Bochumer Humboldt-Professor hat in seinem Berufsleben Tausende von Angstpatientinnen und -patienten behandelt: „Das ist sehr lohnend, weil man diesen Menschen wirklich helfen kann“, sagt der 67-Jährige, der als Pionier auf dem Gebiet der Ursachenforschung und Therapie von Angststörungen gilt.
Dabei kam der in der hessischen Kleinstadt Korbach sowie in der Schweiz und Belgien aufgewachsene Margraf eher zufällig zu seinem Thema. Nach dem Studium ging er als DAAD-Stipendiat an die US-amerikanische Uni Stanford. In diesem „Wissenschafts-Schlaraffenland“, wie er es nennt, wurde das Thema an ihn herangetragen.
Damals ging es vor allem um Panikstörungen, über die man zu dieser Zeit noch relativ wenig wusste. „Wir konnten zeigen, dass die Panikattacken nicht aus heiterem Himmel kommen“, berichtet Margraf. Vielmehr interpretierten die Betroffenen körperliche Empfindungen wie Herzklopfen oder Atemnot falsch. Sie entwickelten Todesängste, obwohl sich etwa der Herzschlag kaum verändert. Doch sie fürchten, sofort zu sterben, weil sie in einer Kettenreaktion immer stärker in sich hineinhorchen, normale Körperempfindungen sehr intensiv wahrnehmen und sich die Ängste aufschaukeln. In der Folge vermeiden viele Betroffene öffentliche Plätze, Menschenmengen, Tunnel, Autofahren oder Reisen ohne Begleitung: „Ich habe viele Fälle gesehen, wo Menschen jahrelang ans Haus gefesselt waren“, so Margraf.

Zurück in Deutschland, habilitierte er sich an der Uni Marburg über Panikattacken und entwickelte das „Marburger Therapiemodell“. Dabei handelt es sich um eine 15-stündige Verhaltenstherapie, die rund zweieinhalb Monate dauert. Sie hilft den Patientinnen und Patienten, ihre falschen Denkmuster zu überprüfen und zu ersetzen. Wird den Betroffenen klar, dass Beschwerden wie Herzklopfen oder Zittern aufgrund von Angst entstehen und nicht bedeuten, dass man am Rande eines Herzinfarktes steht, verlieren die Symptome ihren Schrecken. Wenn Angstsituationen dann noch systematisch geübt werden, nehmen die Beschwerden ab. Das Modell ist seitdem 100.000-fach angewandt worden, berichtet Margraf. Die Erfolgsquote sei ungewöhnlich hoch. Weit über 80 Prozent der Betroffenen hatte danach keine Panikanfälle mehr. Zudem seien die Ergebnisse auch langfristig noch sehr gut, so Margraf. Dagegen wirkten Psychopharmaka meist nur während der Einnahme.

Neben dem mehr als 80.000-mal verkauften Sachbuch über „Panik, Angstanfälle und ihre Behandlung“ schrieb er Lehrbücher über Verhaltenstherapie, aber auch Ratgeber wie „Vor lauter Sorgen“. In die Ambulanzen seiner Fakultät an der Bochumer Ruhr-Universität kamen während der Pandemie vor allem jüngere Menschen, die unter Ängsten und Depressionen litten. Wie auch bei früheren Großkrisen – etwa der Weltwirtschaftskrise von 1929 oder dem Zweiten Weltkrieg – waren die Folgen bei den Kindern und Jugendlichen nicht sofort, aber mit einer Verzögerung von etwa einem Jahr sichtbar. Sie leiden zum Teil bis heute unter Ängsten und Depressionen.

Dagegen spielt der Krieg in der Ukraine eine „erstaunlich geringe Rolle“ bei den Angsterkrankungen. Margraf erklärt sich den Unterschied damit, dass die Corona-Pandemie im täglichen Leben viel spürbarer war. Mit den Lockdowns, den Schulschließungen, den eingeschränkten sozialen Kontakten und den Masken habe Corona viel stärker in den Alltag eingegriffen. In der Folge stiegen auch die Fälle von häuslicher Gewalt, der Stress in den Familien und die ökonomischen Auswirkungen. Keinen starken Zusammenhang sieht der Psychologe auch beim Thema Klimakrise und Angststörungen. Er weist aber darauf hin, dass die Informationenquellen einen wichtigen Einfluss haben: „Stärkerer Gebrauch sozialer Medien geht mit schlechterer psychischer Gesundheit einher“, sagt der Forscher.

Seit August ist Jürgen Margraf Senior-Professor, also Forscher im Unruhestand. Seitdem konzentriert er sich vor allem auf das „Deutsche Zentrum für psychische Gesundheit“, das Versorgungslücken schließen, Präventionsangebote stärken und Therapien nachhaltig verbessern will. So erforscht das Team, warum die Menschen in den Städten mehr psychische Probleme haben als auf dem Land.
Dazu gehört auch ein digitales Panel, mit dem die psychische Gesundheit der Menschen in Deutschland über lange Zeit untersucht werden soll. 150.000 Menschen sollen dazu sechsmal im Jahr befragt werden, um in einer Art Fieberkurve frühzeitig zu erfahren, wie es den Menschen geht. In Stichproben werden dann Interventions-Möglichkeiten erprobt.

Gesa Coordes

Bild mit freundlicher Genehmigung von Alexander Basta