Im Jubiläumsjahr 2020 kam für die Jazzinitiative Marburg J.I.M. so ziemlich alles anders. Wie der Verein dieser Tage aufgestellt ist, erläutert Vor­stands­mit­glied und Programmplaner Carsten Degner im EXPRESS-Gespräch.

EXPRESS: Anfang März haben wir an dieser Stelle über 40 Jahre Jazz­initia­tive Marburg gesprochen und euer geplantes Jubiläums­programm. Und dann ging alles ganz schnell …

Carsten Degner: Am 10. März spielte noch, schon mit Anwesenheitsliste, der legendäre Posaunist und Pianist Ed Kröger mit seinem Quintett, und dann kam der Shutdown. Wie viele, hatten wir ein paar dramatische Tage. Insbesondere begleitete uns die Sorge um unsere US-amerikanischen Freunde um den Gitarristen Michael Musillami, die in der Woche drauf bei uns sein sollten. Das Quintett war schon in Wien gelandet und auf einer Odyssee durch Süd­deutsch­land von Konzertabsage zu Konzertabsage auf dem Weg zu uns, bevor sie dann doch noch heil in die USA zurückkehren konnten. Und das war’s dann erst einmal.

EXPRESS: Wie ist der Verein bislang durch die Pandemie gekommen?

Carsten Degner: Nun, unsere große Stärke, die dichte Atmosphäre im Club Cavete, die Nähe zu den Künstlerinnen und Künstlern, ist nun natürlich unsere größte Schwäche. An so etwas wie eine Open stage mit ständigen Wechseln auf der Bühne und im Publikum war und ist überhaupt nicht zu denken. Auch andere Live-Formate gingen zunächst gar nicht. Wir sind froh, dass unsere Wirtin Sandra mit ihren Mitarbeiterinnen zumindest die Türen zum Club offenhalten konnte …

EXPRESS: Ganz untätig wart ihr die Zeit über aber nicht?

Carsten Degner: Nein, wir haben schon überlegt was geht. Die Musikerinnen und Musiker haben digitale Formate erwogen und sich dann zunächst gegen etwas beliebige Streaming-Formate entschieden, auch wenn das für die Zukunft nicht ausgeschlossen wird. Sie haben eine hochkarätige Videoproduktion mit lokalen Profis wie dem Filmemacher Thomas Rösser geplant, um den eigenen Qualitätsanspruch auch zu dokumentieren. Erste Ergebnisse auf unserer Webseite und unserem YouTube-Kanal, der Cavete Live Tape Teaser ist online, zwei Live-Videos folgen in Kürze.

Und ganz besonders freut uns, dass sich in der Shutdown-Zeit ein Team um den Bassisten Thomas Bugert gefunden hat, um ab November unseren Jazz-Workshop “Jazz Up Your Life” für Musikerinnen und Musiker aller Instrumente wieder an den Start zu bringen. Wenn alles gut geht, startet das am 8.11. mit Hygieneplan in der Cavete, einige Plätze sind noch frei, Infos auch auf unserer Webseite.

EXPRESS: Nun ist ein Neustart mit hochkarätigen Konzerten geplant. Wer kommt und unter welchen Bedingungen finden die Veranstaltungen statt?

Carsten Degner: Es war klar, dass wir den Restart vorsichtig und respektvoll angehen wollen. Wir sind ein kleines ehrenamtliches Team, das sicher kein Risiko für das Publikum eingehen will. So haben wir zunächst vier Konzerte geplant, die ersten beiden mit Unterstützung von unseren dortigen Freunden im KFZ. Falls es die Bedingungen zulassen, kommen dann zwei weitere in unserer Homebase Cavete, unter Ausnutzung der gesamten Räumlichkeit und mit medialer Unterstützung. Und wenn die aktuelle Entwicklung das nicht zulässt, dürften wir auch hierfür ins KFZ ausweichen.

Gestartet haben wir mit Daniel Erdmanns Velvet Revolution. Daniel, 2019 euopäischer Jazzmusiker des Jahres, hat sein Konzert hier als Warmup gegeben, bevor er am Tag darauf in Stuttgart den SWR-Jazzpreis 2020 bekam. Am 10.11. folgt Lorenz Hargassners Pure Desmond. Der Ausnahmesaxophonist und Freund des sanften Klangs bringt neben seinem “Audrey”-Programm – als Reminiszenz an die Ära Audrey Hepburns – auch Stücke aus dem demnächst erscheinenden Album mit “James Bond”-Klassikern ins KFZ. Am 18.11. dann, hoffentlich in der Cavete, das Inner Language Trio des Schweizer Pianisten Christoph Stiefel. Seine intensiven und außergewöhnlichen Kompositionen haben nicht nur unsere Programmgruppe begeistert.

Und last but not least dann am 8.12. der mehrfache Echo-Preisträger Sebastian Gramss mit “Slowfox”, der Bassist kommt mit ebenfalls mehrfach preis­ge­krön­ten Kollegen, dem neu­see­ländischen Saxophonisten Hayden Chisholm und dem Wiener Pianisten Philip Zoubek. Die begeisterte Presse verspricht uns ein “Fest des Neo Cool Jazz”. Wer Sebastians Projekt kennt, weiß, dass das sicher nicht zu viel versprochen ist.

EXPRESS: Die Corona-Fallzahlen sind in Bewegung und auch die Kon­se­quen­zen. Welche Auswirkung hätte ein weiterer Lockdown für die J.I.M.?

Carsten Degner: Wie alle wissen wir nicht wirklich was kommt. Aber die Erfahrung des letzten halben Jahres hat uns gezeigt, dass musikalische Kreativität und Solidarität unter den Beteiligten wichtige menschliche Werte sind, die in Krisenzeiten ihre wahre Bedeutung zeigen. Der künstlerische Schaffensdrang lässt sich nicht von Viren ersticken. Das zeigen auch die Aktivitäten vieler unserer musikalischen Freunde von Marburg über New York bis in die Berge North Carolinas, wo Pianist Michael Stevens online Konzerte veranstaltet.

Dramatisch ist aber die soziale und wirtschaftliche Lage der vielen Einzel­selbst­ständigen im Kultur­bereich. Ein erneuter Stillstand würde dies noch ver­schär­fen. Neben dem Anspruch, unsere eigentliche Arbeit fortzuführen, ist unsere Aufgabe als “Verein zur Förderung der kreativen Musik” natürlich auch, eine Überlebensstrategie für die kreative Szene einzufordern und mitzugestalten. Wir werden also sicher nicht in Schockstarre verfallen.

Michael Arlt

Bild mit freundlicher Genehmigung von Pure Desmond