Mit ihrem Text “Ungepflegt” ist Poetry-Slammerin Leah Weigand deutschlandweit bekannt geworden. Im Express-Interview erzählt die 26-jährige Marburgerin von ihrem Leben zwischen Bühne, Vorlesungssaal und Krankenzimmer.

Express: „Ich stehe ganz am Anfang und war schon manchmal am Ende“ ist eine Zeile aus deinem Text „Ungepflegt“, den du auf dem Neujahrsempfang der Stadt Marburg aufgeführt hast. Hast du dafür ein Beispiel?

Leah Weigand: Das bezieht sich auf Situationen in der Pflege, in denen ich nervlich am Ende war. Wenn ich beispielsweise überfordert war und gemerkt habe, dass ich meinen Beruf nicht so ausüben kann, wie ich ihn gerne ausüben würde. Wenn es viel zu viel war und zu wenig Personal dafür, wenn dann ein Patient kam, bei dem ich gemerkt habe, dass es ihm gar nicht gut geht. Der hat dann vielleicht eine schlimme Diagnose bekommen und bräuchte jetzt Zuwendung, und dass ihm zugehört wird, aber ich konnte das der Person nicht geben, weil gerade drei andere Tätigkeiten auf mich gewartet haben, die ich machen muss. Das bringt mich dann an meine Grenzen, weil ich mit meiner Arbeit und dadurch mit mir selbst so unzufrieden bin. Ich denke aber auch an Situationen, in denen ich von einzelnen Schicksalsschlägen oder in der Psychiatrie völlig mitgenommen wurde, sodass ich dann nachhause gegangen bin und geheult hab. Oder mich direkt aus solchen Situationen rausnehmen musste, weil es so schlimm war.

Das „Ich stehe ganz am Anfang“ bezieht sich dann auf dein Alter?

Ja, aber auch auf den Beruf, denn da war ich ja noch in der Ausbildung und manche machen das über 20, 30 Jahre.

Was hat sich für dich durch den „Ungepflegt“-Text verändert?

Im Moment ist es ein bisschen viel auf einmal, weil der Text so viral gegangen ist. Es schwimmen sehr viele Aufträge, Anfragen und persönliche Nachrichten ein, wo ich echt sortieren muss. Ich bin ja auch in der Talkshow 3nach9 eingeladen worden, was ich mir vor paar Monaten gar nicht vorstellen konnte. Der Bekanntheitsgrad hat sich auf jeden Fall verändert.

Welche Rückmeldungen bekommst du von deinen Pflegekollegen und -kolleginnen?

Das ist sehr krass, denn ich habe super viele Nachrichten, auch sehr private, bekommen und das fast ausschließlich von Pflegekräften. Die schreiben dann, dass ich ihnen eine Stimme geben würde, dass ich das ausdrücke, was sie denken und fühlen, aber ich kann das irgendwie in Worte fassen. Für mich als Sprachkünstlerin ist das das beste Feedback, was ich bekommen kann, und zusätzlich ist das ein richtig gutes Gefühl, weil das so vereinend ist.

Willst du dieses Thema auch weiterhin in deinen Texten verfolgen?

Durch den Pflege-Text bin ich in einer Nische gelandet, obwohl ich auch andere Themen bediene. Ich werde nicht ausschließlich Pflegeinhalte machen. Trotzdem nehme ich wahr, dass es wichtig ist, weiter Worte für die Pflegesituation zu finden und laut zu sein, weswegen ich mir auf jeden Fall vorstellen kann, mehr darüber zu schreiben.

Was bedeutet es für dich, mit dem Pflegethema in Talkshows zu sitzen oder Interviews zu geben?

Ich würde mich sehr freuen, wenn ich dadurch provozieren kann, Politiker und Politikerinnen aus der Reserve locken kann. Die Politik muss sich ernsthaft mit der Lage im Pflegewesen beschäftigen, aber dafür sind sie oftmals zu weit weg, darauf möchte ich hinweisen.

234.000 Klicks hat Weigands Slam “Ungepflegt” mittlerweile auf Youtube.

Beim Neujahresempfang bedankte sich Oberbürgermeister Spies bei allen Beschäftigten im Gesundheitswesen. Was hast du drüber gedacht?

Das ist ja in eine Schublade mit dem Klatschen auf Balkonen oder den Corona-Auszahlungen zu fassen. Nett von ihm, nehmen wir, aber es ändert jetzt erstmal nichts.

Spies sicherte in seiner Rede zudem volle Unterstützung bei den Tarifverhandlungen des Pflegepersonals zu. Kommt diese Unterstützung an?

Er hat sich ja auch dafür ausgesprochen, dass das Klinikum wieder verstaatlicht wird, was ich vollkommen unterstützen würde. Es ist in jedem Fall ein Anfang, dass wir einen Oberbürgermeister haben, der dahintersteht, aber ob das jetzt zu einer Veränderung führt, weiß ich nicht.

Am 9. Februar findet eine Protestversammlung auf Zoom statt, die einen Einblick in die Zustände des UKGM geben soll. Das Ziel der Bewegung ist es, in Tarifverhandlungen mehr Personal und Entlastung zur Verfügung gestellt zu bekommen. Wie müsste sowas konkret aussehen?

Der wichtigste Punkt ist, dass nicht nur mehr Geld gezahlt werden muss. Es fehlt vor allem an Zeit. Um mehr Zeit zu schaffen, muss man strukturelle Veränderungen in Gang setzen, sodass der Beruf attraktiver wird und mehr Leute die Ausbildung machen wollen. Zum einen muss klargestellt werden, dass wir Männer in der Pflege brauchen, dass das körperlich anstrengend ist, dass wir männliche Pfleger für männliche Patienten brauchen. Zum anderen müssen die Hierarchien im Krankenhaus dringend umstrukturiert werden.

In welche Richtung denkst du da?

Der Pflegeberuf muss das Image des Helferberufs verlieren. Pflegekräfte sind nicht nur Hilfskräfte der Ärzte, sondern sie sind genau so wichtig. Sie benötigen dringend Autonomie in gewissen Aufgabenbereichen, in denen sie Expertise haben, wo sie dann zuständig sind, sodass nicht alles unter der Anordnung von Ärzten steht.

Wie kann ich mir das momentan vorstellen?

Noch stehen selbst Bereiche unter Anordnung, in denen die Pflegekräfte viel mehr Ahnung haben als die Ärzte, beispielsweise Prophylaxe-Maßnahmen. Da wäre es viel sinnvoller, wenn die Pflege selbst entscheiden könnte. Dann würde man wieder ein Image hinbekommen, dass Pflegen nicht jeder machen kann, dass das ein anspruchsvoller Beruf ist, in dem man viel Verantwortung übernehmen muss, weil man manchmal über Leben und Tod entscheidet.

Neujahrsempfang 2023 mit Leah Weigand (Foto: Georg Kronenberg)

Kriegst du in deiner Rolle als Medizinstudentin die missliche Lage im UKGM mit?

Noch bin ich in der Vorklinik-Phase, wo wir nur Theorie machen und sehr weit weg sind vom Geschehen im Klinikum. Daher kriege ich jetzt sehr wenig mit, aber als ich noch Pflegekraft im Krankenhaus war, habe ich die Studenten und Studentinnen kennengelernt, die wegen des Praktischen Jahrs oder der Famulatur bei uns waren. Die kriegen das auf jeden Fall zu spüren und lernen weniger. Die Ärzte sind gestresst und das Pflegepersonal unterbesetzt. Die Studierenden müssen demnach irgendwelche Arbeiten übernehmen und lernen nicht so viel Neues, weil sie beispielsweise den ganzen Tag Blut abnehmen müssen. Das ist sehr schade.

Ein Portrait von Leah Weigand gibt es hier.

Interview: Leonie Theiding

Bilder mit freundlicher Genehmigung von Luca Motz, Yannic Steube und Georg Kronenberg | Marbuch Verlag GmbH