Guter Politikunterricht hilft gegen EU-Skepsis, Vorurteile und Populismus. Am besten beginnt man damit schon in der Grundschule, sagt die Politikdidaktikerin Monika Oberle. Sie sucht nach Wegen, Kindern und Jugendlichen das sperrige Europathema nahezubringen.
Am Wochenende stehen die Europawahlen vor der Tür. Doch für die meisten Schülerinnen und Schüler ist die Europäische Union ein kompliziertes, weit-gehend unbekanntes Gebilde. Selbst kurz vor dem Abitur wissen die meisten Jugendlichen nicht, dass das Europaparlament direkt gewählt wird. Ein beunruhigender Befund, findet Monika Oberle: “Unwissenheit und Unverständnis kombiniert mit Skepsis ist auf die Dauer gefährlich für Europa und erschwert die Reform der EU”, sagt die Forscherin. Zudem gingen 30 Prozent der legislativen Entscheidungen auf Bundesebene auf einen europäischen Impuls zurück. Jetzt hat sie mit ihrem Team neue Unterrichtsmaterialien für die Bundeszentrale für politische Bildung vorgelegt (www.bpb.de/shop/lernen/was-geht/). Der Schwerpunkt: Was hat Europa mit dem Alltag der Jugendlichen zu tun? Etwa beim Einkaufen, Reisen oder bei den Roaminggebühren.
Monika Oberle ist nicht nur überzeugte Europäerin, sie vertritt auch einen Lehrstuhl für Didaktik der Politik mit Schwerpunkt EU-Bildung: Die aus Karlsruhe stammende Forscherin hat Italienisch in Perugia studiert und als Übersetzerin für Englisch und Italienisch gearbeitet. Ihr Politikstudium führte sie zunächst nach Marburg, dann an die Londoner South Bank University und nach Berlin. Nach der Diplomarbeit über “Politische Korruption in Italien” promovierte sie über das politische Wissen von Jugendlichen über die EU an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. 2011 wechselte zunächst als Juniorprofessorin an die Uni Göttingen, wo sie seit 2014 als ordentliche Professorin lehrt.
Hier bildet sie künftige Politiklehrer aus und forscht an der Frage, woran die bisherige EU-Bildung krankt. Das beginnt bei den Schulbüchern, in denen die Europäische Union und die Europawahlen zu wenig vorkommen, und setzt sich bei der Ausbildung der Lehrer fort. Viele von ihnen haben die EU nicht oder nur am Rande kennengelernt, sagt die Wissenschaftlerin: “Wir brauchen bessere Schulbücher und mehr Europäische Union in der Lehrerausbildung und der Lehrerfortbildung.” Monika Oberle setzt sich daher bis heute nicht nur als Referentin vor Schülern und jungen Erwachsenen im Verein zur Förderung politischen Handelns ein, sondern gibt auch selbst Lehrerfortbildungen zum Thema EU.
Nach ihrer Überzeugung ist die Europäische Union eigentlich nicht zu kompliziert,um sie Jugendlichen nahezubringen. Man braucht allerdings Zeit und gute Methoden. Gründlich erforscht hat sie EU-Planspiele (www.planpolitik.de), die an zwölf Schulen mit mehr als 300 Schülern in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen erprobt wurden. Dabei schlüpfen die Jugendlichen in die Rolle von Europa-Abgeordneten verschiedener Länder. Sie diskutieren Fragen wie Asylpolitik, Datenschutz und CO2-Ausstoß von Pkws in Fraktionen, Ausschüssen und schließlich im Europaparlament. Dort entscheiden sie selbst, ob die Flüchtlinge nach Quoten verteilt werden, ob es sichere Drittstaaten gibt und wie die finanziellen Lasten verteilt werden.
Und zugleich erleben sie quasi von innen, wie demokratische Aushandlungsprozesse funktionieren. Sie erleben, wie viele unterschiedliche Interessen zu berücksichtigen sind, wie um Kompromisse gerungen und Mehrheiten gefunden werden müssen, um zu Lösungen zu kommen. “Das verändert die Einstellung zur EU”, hat Oberle festgestellt. Dies gilt vor allem für Jugendliche, die zuvor eine negative Ansicht zur Europäischen Union hatten. Sie hatten nicht nur Spaß an der spielerischen Art der Wissensvermittlung, sie hatten anschließend auch eine bessere Meinung von der EU und das Gefühl, selbst etwas bewirken zu können. Das Vertrauen in die EU-Politik wuchs, so Oberle: “Das wirkt durchaus gegen Politikverdrossenheit.”Das funktioniert nicht nur an Gymnasien – auch Gesamt- und Berufsschulen waren bei der Untersuchung dabei. Begeistert ist Oberle davon, wie gut die Simulationen sogar an Grundschulen klappen, in denen die Europäische Union normalerweise kein Thema ist. In einem Jean Monnet Projekt mit 360 Schülern in 17 Pilotklassen wurden EU-Ratsentscheidungen simuliert, bei denen Viertklässler über die Einführung einer Lebensmittelampel, Tierschutzfragen bei trächtigen Sauen und den Benzinverbrauch von Pkw entscheiden sollten. “Die Kinder waren richtig euphorisch”, berichtet Oberle. Sie fühlten sich ernst genommen. Und selbst Wochen später wirkten die Lerneffekte der relativ kurzen Projekte von drei Stunden noch nach.
Deswegen plädiert die Wissenschaftlerin dafür, EU-Bildung bereits in der Grundschule einzuführen. Um gegen Euroskeptizismus und Rechtspopulismus vorzugehen, brauche es zudem mehr Zeit für den Politikunterricht. Aber meist startet das Fach erst in der achten oder neunten Klasse und verschwindet in vielen Bundesländern gemeinsam mit Geschichte, Wirtschaft und Geografie in Fächerverbünden wie Gesellschaftslehre oder “Politik und Wirtschaft”.
Freilich sind die Planspiele nicht der einzige Weg für gute EU-Bildung: Probewahlen, Untersuchungen von Parteiprogrammen, Pro-und-Contra-Debatten, Zukunftswerkstätten, Zusammenarbeit mit außerschulischen Bildungsträgern oder EU-Politiker, die den Schülern Rede und Antwort stehen, nennt Oberle als Beispiele. Urlaub im europäischen Ausland oder Schüleraustausch seien gut für die europäische Identität, weiß die Forscherin. “Damit die europäische Integration weiter funktioniert und damit die EU demokratischer werden kann, braucht man aber mehr Hintergrundwissen über die EU”, sagt Oberle: “Europa erklärt sich nicht von selbst.”
Erst Ende Februar war sie als Referentin bei einem freiwilligen Schülerseminar zum Thema. Aber selbst diese besonders interessierten Jugendlichen schätzten den Anteil der Verwaltungsausgaben am EU-Haushalt mit mehr als 60 Prozent viel zu hoch ein. Tatsächlich nehmen Gebäude, Abgeordnete, Übersetzungsdienst und die übrige Verwaltung nur sechs Prozent des EU-Haushalts ein. Oberles Bilanz: “Guter Politikunterricht hilft, Vorurteile zu überwinden. Er zeigt aber auch, dass es viele unterschiedliche Vorstellungen zur Ausgestaltung der EU gibt.”
Gesa Coordes